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Das biopsychosoziale Modell - Zu viel Psychosozial und zu wenig Bio?

Balance des biopsychosozialen Modells in der Befunderhebung und Behandlung von Rückenschmerzen.

In den aktuellen Behandlungskonzepten für unspezifische chronische Rückenschmerzen steht die multidisziplinäre Behandlung auf der Grundlage des biopsychosozialen Modells (BPS) im Mittelpunkt. Diesem Modell zufolge wird die Wahrnehmung chronischer Schmerzen vor allem von der Umgebung, den Kognitionen, den Emotionen, den Erwartungen, dem körperlichen Zustand und dem Verhalten beeinflusst.

Als Reaktion auf die enttäuschenden Ergebnisse der Behandlung von Rückenschmerzen, die bis Mitte des 20. Jahrhunderts fast ausschließlich auf einem traditionellen biomedizinischen Modell des Rückens beruhte, formulierten George Engel und Jon Romano von der amerikanischen Universität Rochester 1977 das biopsychosoziale Modell. Damit legten sie nahe, dass nicht nur die biologischen, sondern vor allem auch die psychologischen und sozialen Faktoren für das Verständnis des medizinischen Zustands einer Person mit Schmerzen entscheidend sind.

Heute, fast 50 Jahre später, hat die außerordentliche Entwicklung der radiologischen Untersuchungstechniken zu einer enormen Entwicklung der biomedizinischen Behandlungstechniken sowohl medizinisch als paramedizinisch geführt. Darüber hinaus bestätigten diese bildgebenden Verfahren das Konzept des Nervenschmerzes, das auf eine Nervenschädigung zurückzuführen ist. Aktuelle Untersuchungen zeigen jedoch, dass die auf diesen bildgebenden Verfahren basierende Diagnostik nicht zu wirksameren Therapien führt, was sich auch in verschiedenen Leitlinien widerspiegelt. Offenbar lassen sich viele Formen von Rückenschmerzen nicht eindeutig diagnostizieren, was auch den Begriff "unspezifische Rückenschmerzen" erklärt.

Darüber hinaus setzt sich eine moderne Auffassung durch, dass chronische Schmerzen durch gestörte Funktionen  des (oder durch Teile des) komplexen Systems der Schmerzwahrnehmung oder der Kommunikation zwischen diesen Teilen verursacht werden können. Hinweise auf diese gestörten Regulationsmechanismen sind laut IASP (2011) die zentrale Sensitisation, bei der zentral gelegene nozizeptive Neuronen stärker auf normalen oder unbewussten afferenten Input reagieren, und die periphere Sensitisation, bei der periphere Nozizeptoren stärker auf die Stimulation ihrer rezeptiven Felder reagieren, z. B. durch die Freisetzung von Schmerzmediatoren. Die periphere Sensitisation kann dann zu einer zentralen Sensitisation führen.

Der (chronische) Schmerz ist somit vomwissenschaftlich fundierten nozizeptiven Konzept abgekoppelt. Für viele Wissenschaftler und Therapeuten ist diese veränderte Wahrnehmung fast die einzige Erklärung für Schmerzen.

Auch aus diesem Grund hat sich das biopsychosoziale Modell weiterentwickelt, wobei die verhaltensbezogenen Aspekte im Vordergrund stehen. In den derzeitigen multidisziplinären Behandlungsprotokollen ist das spezifische körperliche Training der angestrebten Verhaltensänderung, die zur Fortsetzung der allgemeinen täglichen Aktivitäten führen soll, untergeordnet. Aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass auch die Ergebnisse dieses Ansatzes alles andere als optimal sind.

Offensichtlich ist der bestehende wissenschaftliche Rahmen, der sich fast ausschließlich auf die Pathologie der Wirbelsäule konzentriert, nicht in der Lage, eine klare Richtung für den Prozess der eindeutigen Diagnose und einer damit verbundenen wirksamen Therapie vorzugeben.

Mosely und Butler (2014) plädieren als Verfechter des biopsychosozialen Modells für ein überwiegend psychosoziales Verständnis von Schmerz - explain pain (EP), das zusammenfassend Folgendes beinhaltet:
- EP ist keine Technik, sondern eine Reihe von pädagogischen Interventionen.
- EP zielt darauf ab, das Verständnis der biologischen Prozesse, die dem Schmerz zugrunde
  liegen, zu verändern.
- EP betont die Unterscheidung zwischen Nozizeption und Schmerz.
- EP betont, dass Schmerz ein Schutzmechanismus und kein Indikator für Gewebeschäden ist.
- EP erhöht das schmerzbezogene biologische Wissen und reduziert die Katastrophisierung und
  präsentiert eine Biologie  des Schmerzes, die einen biopsychosozialen Ansatz untermauert.

Die Frage ist nun, wie die Behandlung von Menschen mit Rückenschmerzen besser gestaltet  werden kann.

Immer mehr neuere wissenschaftliche Untersuchungen sowie Statistiken z. B. von den Krankenkassen zeigen, dass der zunächst radiologisch diagnostizierte Nervenschmerz, der durch eine Pathologie der Wirbelsäule verursacht wird, letztlich nozizeptiver Natur ist. Allzu oft entpuppen sich diese Schmerzen als Folge von Funktionsstörungen der Hüft-, Schulter- und/oder Wirbelgelenke. Das PhysioNovo-Konzept geht daher davon aus, dass trotz zentraler und peripherer Sensitisation die ordnungsgemäße Gelenkfunktion der wichtigste Faktor dafür ist, ob muskuloskelettale (chronische) nozizeptive Schmerzen auftreten oder nicht.

Eine Möglichkeit zur Verbesserung der Behandlung von Patienten mit Rückenschmerzen besteht darin, dass die zunehmenden Erkenntnisse der funktionellen Anatomie sowohl der Hüft-undSchultergelenke als auch der Wirbelgelenke und die daraus abgeleiteten spezifischen motorischen Behandlungsprogramme tatsächlich in die bestehenden multidisziplinären Programme einbezogen werden. Ein spezifisches, integrales Training der Hüft-, Schulter- und Wirbelgelenken in enger Kombination mit einer Verhaltensänderung könnte ein Beispiel für ein solches spezifisches Rehabilitationsprogramm mit überraschenden Ergebnissen sein.

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